Arbeitserziehungslager Nordmark
Das "Arbeitserziehungslager Nordmark" (AEL Nordmark), wie es im NS-Sprachgebrauch bezeichnet wurde, war ein Häftlingslager der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Hassee am Ufer des Vorderen Russees. Es diente, wie alle Lager dieses Typs, hauptsächlich der Unterdrückung ausländischer Zwangsarbeiter.[1]
Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Das Lager wurde ab Juni 1944 errichtet und bestand in seiner ursprünglichen Funktion bis zum Ende der NS-Herrschaft.[2] Es bedeckte eine Fläche von etwa 16 ha am Ostrand des Sees, unmittelbar an der damaligen Stadtgrenze. Heute verläuft dort der Seekoppelweg.
Offiziell diente es der Aufnahme "arbeitsunlustiger Elemente" unter den Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen; der Aufenthalt war auf 56 Tage beschränkt, die Betroffenen wurden ohne Gerichtsverfahren durch die Gestapo in "Schutzhaft" genommen. Faktisch stellte das Lager "ein eigenes KZ der Gestapo Kiel" dar, das nicht von höherer Stelle kontrolliert wurde. Hierher wurden auch andere Opfer der Gestapo gebracht, etwa ein Bauer, der "Feindsender" gehört haben sollte, ein widerspenstiger Geistlicher oder Menschen, die im Verdacht der Widerstandsarbeit standen.[3]
Die erste Belegung erfolgte Ende Juli 1944; die Häftlinge hatten Zwangsarbeit zu leisten. Einsatzgebiete waren Trümmerräumung, Bunkerbau und Entschärfung und Beseitigung von Blindgängern, aber auch Arbeit in Kieler Zivilbetrieben. Die Schätzungen, wie viele Menschen im Lager inhaftiert waren, variieren zwischen 3 700 und 6 000.
In den letzten Kriegswochen war das Lager durch "Evakuierungstransporte" (Todesmärsche) aus anderen Lagern vollkommen überfüllt. Durch die unbeschreiblichen Haft- und Arbeitsbedingungen sowie durch systematische Erschießungen, insbesondere in den letzten Wochen angesichts der heranrückenden Front, sind insgesamt mindestens 578 Häftlinge im AEL Nordmark ums Leben gekommen.[4]
Detlef Korte zieht den Schluss:
- "In diesem Lager wurden Häftlinge erschossen, erhängt, erschlagen, wurden mit Spritzen getötet, starben an Mangelkrankheiten oder Hunger. Aus diesem Grunde ist die Bezeichnung "KZ Russee" - unabhängig von der bürokratischen Bewertung als Vorstufe zu einem Konzentrationslager - gerechtfertigt."[5]
Mit einer Einschränkung: Das Lager lag zwar am Russee, aber auf dem Gebiet des Kieler Stadtteils Hassee, nicht im damals noch selbstständigen Dorf Russee. Dies war dem Autor bekannt; er beschreibt verschiedene Bemühungen des Dorfes, sich vom Lager zu distanzieren.[6]
Nach Kriegsende wurden die vorhandenen Baracken lange als Flüchtlingslager genutzt. Erst als dies um 1960 nicht mehr erforderlich war, wurden die Holzbaracken abgerissen. Ab 1962 wurde dort der Seekoppelweg angelegt und das heutige Gewerbegebiet entstand.[7] Einen großen Teil des Lagergeländes nehmen der famila-Supermarkt und die Anlagen des TSV Russee e.V. ein.
Juristische Aufarbeitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Durch britische Gerichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Der Lagerkommandant, Kriminalkommissar und SS-Sturmbannführer Johannes Post, wurde am 3. September 1947 von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und im Februar 1948 gehängt. Das Urteil erging allerdings wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von alliierten Flugzeugbesatzungen am 29. März 1944[8][9], also für Taten, die er unabhängig von seiner Tätigkeit im AEL Nordmark begangen hatte.
- Von Herbst 1947 bis Frühjahr 1948 standen 24 Personen unter Mordanklage vor einem britischen Militärgericht in Hamburg ("Kiel-Hassee-Cases").
- Sieben davon wurden, vorwiegend wegen Mangels an Beweisen, freigesprochen.
- 15 Angeklagte wurden zu Haftstrafen zwischen zwei und 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
- Dem dänischen Lagersanitäter Orla Eigil Jensen konnte die Ermordung kranker und schwer verletzter Häftlinge nachgewiesen werden. Er wurde zum Tode verurteilt, die Strafe wurde nach Einspruch durch das dänische Königshaus in lebenslange Haft umgewandelt. Nach anderen Informationen[10] wurde seine Strafe in 20 Jahre Haft umgewandelt, aus der er 1956 entlassen und nach Dänemark abgeschoben wurde.
- Der stellvertretende Lagerkommandant Otto Baumann wurde zum Tode verurteilt. Er wurde 1948 hingerichtet.
- Alle zu Haftstrafen Verurteilten kamen bis 1956 aus den Gefängnissen frei.
Durch deutsche Gerichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Durch die deutsche Justiz wurden die Verbrechen im AEL Nordmark nicht gesühnt. Die Staatsanwaltschaften ermittelten zwischen 1946 und 1967 mehrfach gegen Täter wegen Mordes, Totschlags oder der Beteiligung daran, es kam jedoch nur selten zu Anklagen. Verurteilt wurde niemand.
Der Hauptverantwortliche für das Lager, der ehemalige schleswig-holsteinische Gestapo-Chef Fritz Schmidt, war untergetaucht und konnte erst 1963 verhaftet werden. Die Anklagebehörde konnte ihm keinen Mord mehr nachweisen, so dass auch er nicht verurteilt wurde.[11]
Gedenken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Mindestens zwei Gedenksteine wurden bereits 1946/47 durch überlebende ehemalige polnische Zwangsarbeiter aufgestellt. Sie waren allerdings spätestens nach der Neubebauung des Geländes Anfang der 1960er Jahre verschwunden.
Erst am 17. Juni 1971 wurde ein offizieller Gedenkstein der Stadt aufgestellt, und zwar an der Ecke Seekoppelweg/Rendsburger Landstraße. Der Aufstellungsort gehört heute zum Firmengrundstück der Firma J. Matthies und liegt am Rande des Kundenparkplatzes gegenüber dem Gebäudeeingang.
In den 1980er Jahren erforschte der "Arbeitskreis Asche-Prozeß", später der "Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein" (AKENS) die Geschichte des Lagers weiter und arbeitete sie auf. 1985 wurde aufgrund dieser Erkenntnisse eine Betonstele mit einer bronzenen Informationstafel am Platz des ehemaligen Lagereingangs an der Rendsburger Landstraße aufgestellt. Ebenfalls seit 1985 führt die Stadt Kiel regelmäßig Gedenkveranstaltungen am Ort des Lagers durch.
Ein im Frühjahr 1992 durch den Verein Arbeit für alle aufgestelltes Stelenfeld wurde nach einem halben Jahr wieder entfernt, weil es stark beschädigt worden war.
Im Jahr 2000 wurde ein Überrest von einem der ersten Gedenksteine aus der Nachkriegszeit wiederentdeckt. Seit dem 4. Mai 2003 gibt es - unter Verwendung dieses Steines und erhaltener Betonfundamente und Mauerreste des ehemaligen "Gästehauses" der SS - einen Gedenkort mit Stele und drei Informationstafeln zum ehemaligen Lagergelände: Er liegt in einer Ecke zwischen zwei Fußballfeldern des TSV Russee e.V. und einem Spazierweg am See.[12][13]
Einen weiteren Gedenkort stellt eine unscheinbare Grabplatte auf dem Friedhof Eichhof dar. Dort sind in den Gräberfeldern 59 bis 61 die sterblichen Überreste von 41 Menschen bestattet, die man 1962 in einem Massengrab auf dem Lagergelände fand.[14]
Seit einigen Jahren bemüht sich neben dem AKENS, der regelmäßig Führungen zum Gedenkort anbietet, auch eine Initiative aus dem Ortsbeirat Hassee darum, die Geschichte des Ortes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie lädt in der Regel am 4. Mai zum gemeinsamen Gedenken ein.[15]
Bilder[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Für weitere Bilder auf die Pfeile klicken, für die ganze Galerie auf das Bildsymbol dazwischen.
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Kautzky, Dietlind / Käpernick, Thomas (Hrsg.): "Mein Schicksal ist nur eins von Abertausenden". Der Todesmarsch von Hamburg nach Kiel 1945. Neun Biografien, Hamburg (VSA-Verlag), 2. durchgesehene und korrigierte Auflage 2022, ISBN 978-3-96488-158-8 (In diesem Buch werden neun Lebenswege von Menschen dargestellt, die im April 1945 den Todesmarsch von Hamburg nach Kiel mitmachen mussten. Dazu enthält der Band einen historischen Überblicksbeitrag und eine Liste mit den bislang 235 namentlich bekannten Teilnehmer*innen des Marsches.)
- Korte, Detlef: "Erziehung" ins Massengrab. Die Geschichte des "Arbeitserziehungslagers Nordmark" Kiel-Russee 1944-1945, Kiel (Neuer Malik Verlag) 1991, ISBN 3-89029-922-9 (Dies ist die bisher einzige detaillierte Aufarbeitung der Geschichte des Lagers, u.a. mit Zeitzeugenberichten dort Inhaftierter.)
Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
„Standort des Gedenksteins von 1971“ auf dem Online-Stadtplan der Stadt Kiel, aufrufbar auf kiel.de
„Standort der Betonstele von 1985“ auf dem Online-Stadtplan der Stadt Kiel, aufrufbar auf kiel.de
„Standort der Gedenkstätte von 2000“ auf dem Online-Stadtplan der Stadt Kiel, aufrufbar auf kiel.de
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ Korte, Detlef: "Erziehung"', S. 12
- ↑ Wikipedia: „Arbeitserziehungslager Nordmark“
- ↑ Korte, Detlef: "Erziehung"', S. 260
- ↑ 26. April 1945 - Vor 60 Jahren: Systematische Erschießungen im Arbeitserziehungslager Nordmark
- ↑ Korte, Detlef: "Erziehung"', S. 258
- ↑ Korte, Detlef: "Erziehung"', S. 252 ff.
- ↑ Geschichte des AEL Nordmark bei geschichte-s-h.de, mit einem Plan des Lagers
- ↑ Details zu den Fliegermorden bei akens.org
- ↑ Wikipedia: „Fliegermorde“
- ↑ Kurzbiographie zu Orla Eigil Jensen bei tenhumbergreinhard.de, abgerufen am 16. Juni 2020
- ↑ Wikipedia: „Fritz Schmidt“
- ↑ Weitere Informationen zum Gedenkort bei akens.org
- ↑ Beschreibung der Gedenkstätten bei akens.org mit Plan des Lagers und Fotos der Gedenkstätten
- ↑ Rönnau, Jens: Open Air Galerie Kiel - Kunst und Denkmäler, Neumünster (Wachholtz) 2011, ISBN 987-3-529-05-05433-4; dort die Nummern 81, 156, 242 und 304
- ↑ Kieler Nachrichten, Datum folgt