Neumühlen-Dietrichsdorf 1864-1970

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Neumühlen-Dietrichsdorf liegt am nördlichen Ufer der Schwentinemündung und an der Stadtgrenze nach Mönkeberg (Kreis Plön). Der Ort wurde zum 1. Mai 1924 ein Stadtteil der Landeshauptstadt Kiel. Zum Stadtteil gehört außerdem die Siedlung Oppendorf.

Neumühlen

In Neumühlen lebten die Bewohner von den zahlreichen Mühlen an der Schwentine. Im Gegensatz dazu war Dietrichsdorf ein landwirtschaftlich geprägter Ort. Die selbständigen Gemeinden Neumühlen und Dietrichsdorf wurden am 26. April 1907 zur Gemeinde Neumühlen-Dietrichsdorf, Kreis Bordesholm zusammengelegt

Die Ortschaft Neumühlen lag am Ufer der Schwentine dort wo der Mühlendamm nicht nur eine Verbindung zwischen Südufer (Wellingdorf) und Nordufer (Neumühlen) ermöglichte, sondern auch für ausreichende Wassermengen für den Betrieb der Mühlen sorgte. Gleichzeitig war der Mühlendamm das Tor in die Probstei. Neumühlen wurde erstmalig 1224 als "Zwentinemunde" erwähnt, Ab 1470 bürgerte sich dann die Bezeichnung "Neue Mühle" oder "Neumühlen" ein. Die neue Mühle am südlichen Schwentineufer war eine Wassermühle und die Stadt Kiel sowie die umliegenden Dörfer waren hier mahlpflichtig. 1540 ging die Kornwassermühle in landesherrlichen Besitz über. Am nördlichen Schwentineufer befand sich seit 1772 eine Ölmühle. In Neumühlen lebten um 1871 rund 589 Einwohner.

Das Nachbardorf Dietrichsdorf lag abseits der Verkehrswege oberhalb der Ortschaft Neumühlen auf einem Plateau um den heutigen Ivensring und Langen Rehm herum. Die Siedlung wurde 1420 als "Diderichstorppe", das heißt: "Dorf des Dietrich", erstmals genannt. Die Verbindung zwischen Neumühlen und Dietrichsdorf erfolgte über den Heikendorfer Weg oder den noch steileren Hohlen Weg und war mühevoll. In Dietrichsdorf lebten um 1871 rund 337 Einwohner.

Dietrichsdorf

Im oberhalb von Neumühlen gelegene Dietrichsdorf prägte die Bauern der Familie Ivens das bäuerliche Leben. Ab 1870 war es aber dann mit der bäuerlichen Beschaulichkeit auch in Dietrichsdorf vorbei. Der Staat erwarb nach Gründung der Kaiserlichen Werft in Ellerbek ein direkt an der Förde gelegenes, rund 32 Hektar großes Grundstück zwischen dem Salzredder und der Gemeindegrenze nach Mönkeberg. Auf diesem Grundstück entstand, abgetrennt durch eine Backsteinmauer vom Gemeindegebiet, das Marineartilleriedepot.

Ein weiterer Strukturwandel in der Gemeinde erfolgte am 1. Oktober 1876. Georg Howaldt übernahm am Nordufer der Schwentine die kleine Werft des Schiffbaumeisters Rudolf Reuters, um in Dietrichsdorf seinen in Ellerbek begonnenen Eisenschiffbau fortzusetzen. Auf dem rund 440 qm großen Grundstück standen für den Schiffbau lediglich eine Helling und eine Halle zur Verfügung.

Anfangs waren lediglich 75 Mitarbeiter auf der Werft beschäftigt. Bereits im August 1883 lief mit der Bau Nummer 100 der Frachtdampfer Emma für die Reederei Sartori & Berger vom Stapel. Mittlerweile beschäftigte die Werft an der Schwentine rund 1200 Mitarbeiter und das Werftgelände umfasste rund 6.600 qm.

Zwischen 1880 und 1884 wurde die in Kiel ansässige Maschinenfabrik Gebrüder Howaldt auf das erweiterte Werftgelände verlegt. Dazu wurde u. a. der Eekberg, ein Hügel am Schwentineufer, abgetragen.

Eine ab 1884 einsetzende Flaute im Schiffbau ließ dann bis 1886 die Zahl der Mitarbeiter auf 200 schrumpfen.

Arbeitersiedlung Neu-Dietrichsdorf

Die Gebrüder Howaldt errichteten ab 1883 vor dem Werftgelände eine Werkswohnungen und Häuser nach den Entwürfen des Architekten Moldenschardt. Zunächst erbaute man für 46 Familien Doppelhäuser. Zehn Jahre später gab es in der Arbeiterkolonie bereits 120 Wohnhäuser. 1895 erfolgte in Neu-Dietrichsdorf der Neubau einer Schule. Weiterhin hatte der Bau der Arbeitersiedlung eine umfangreiche Ansiedlung von Geschäften am Heikendorfer Weg und entsprechenden Handwerksbetrieben zur Folge.

Die Beschäftigungslage auf den Howaldtswerken verbesserte sich ab 1897. Im Jahre 1898 herrschte sogar Vollbeschäftigung. Eine Erweiterung der Werft bis an die Kieler Förde wurde notwendig. Die Zahl der Mitarbeiter auf der Werft betrug nun rund 2.500.

Durch diesen personellen Aufwuchs stieg aber auch die Einwohnerzahl der Gemeinde Dietrichsdorf auf rund 2.900 Bewohner. Bedingt durch eine eingetretene Wohnungsknappheit mussten viele Mitarbeiter der Mühle, des Munitionsdepots und der Werft lange Arbeitswege auf sich nehmen.

Afrika-Viertel

Im Stadtteil Neumühlen-Dietrichsdorf wurde ab 1938 das Afrika-Viertel als ein Wohngebiet für Arbeiter der Howaldtswerke zwischen Langem Rehm und Heikendorfer Weg errichtet. Die Straßennamen wurden im April 1939 durch den Polizeipräsidenten Kiels in den entsprechenden Straßenbenennungsakten festgelegt. Die so festgelegten Straßennamen erinnern an Persönlichkeiten der deutschen Kolonialgeschichte deren Namen im gleichen Atemzug mit Völkermord, Sklaverei und persönlicher Grausamkeit zu erwähnen sind.

Zum Verständnis des nachfolgenden Abschnittes ein Auszug aus einer Reichstagsdebatte von 1889 in der August Bebel (1840-1913), Deutschlands führender Sozialdemokrat, es sehr deutlich machte welche Auswirkung der Kolonialismus auf die annektierten Völker eigentlich hat. Bebel und die Sozialdemokraten im Reichstag brachten so, schon 1889 ihren heftigen Widerstand gegen die deutsche Kolonialpolitik zum Ausdruck.

Zitat:

Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. Wo immer wir die Geschichte der Kolonialpolitik in den letzten drei Jahrhunderten aufschlagen, überall begegnen wir Gewalttätigkeiten und der Unterdrückung der betreffenden Völkerschaften, die nicht selten schließlich mit deren vollständiger Ausrottung endet. Und das treibende Motiv ist immer, Gold, Gold und wieder nur Gold zu erwerben. Und um die Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung im vollen Umfange und möglichst ungestört betreiben zu können, sollen aus den Taschen des Reichs, aus den Taschen der Steuerzahler Millionen verwendet werden, soll die Ostafrikanische Gesellschaft mit den Mitteln des Reichs unterstützt werden, damit ihr das Ausbeutegeschäft gesichert wird. Dass wir von unserem Standpunkt aus als Gegner jeder Unterdrückung nicht die Hand dazu bieten, werden Sie begreifen.[1]

Warum "Afrika–Viertel"?

Zum Ende des 19. Jahrhunderts in den 1880er-Jahren beteiligte sich auch das Deutsche Kaiserreich an der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Die Reichsregierung erwarb Schutzgebiete in Ostafrika, in Südwestafrika und in Westafrika. Das deutsche Kolonialreich umfasste weiterhin Gebiete in China, Papua-Neuguinea, mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien. Die Deutschen Kolonien waren nicht Teil des Deutschen Kaiserreiches, sondern wurden lediglich als überseeischer Besitz angesehen. Das Deutsche Kolonialreich umfasste zu Beginn des ersten Weltkrieges flächenmäßig nach England und Frankreich das drittgrößte annektierte Kolonialgebiet.

Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages im Januar 1920 musste Deutschland alle seine Kolonien aufgeben und alle deutschen Staatsbürger mussten - mit Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika - die Kolonien verlassen.

Deutscher Kolonialismus nach 1918

Nach Ende des Ersten Weltkriegs verabschiedete die Weimarer Nationalversammlung am 1. März 1919 eine Resolution, dass die erzwungene Abtretung der Kolonien Unrecht sei und Deutschland ein Recht auf die Kolonien habe. In der Resolution wurde die Rückgabe der Kolonien gefordert. Lediglich sieben Abgeordnete der USPD stimmten gegen diese Resolution.

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnten die Begründung im Versailler Vertrag hinsichtlich der Abtretung der deutschen Kolonialgebiete ab. Die Abtretung wurde in der Öffentlichkeit als Diebstahl empfunden. Ab 1924 wurde im Auswärtigen Amt eine Kolonialabteilung eingerichtet. Nach Meinung der Experten wurde die Rückgabe der Kolonien Togo und Kamerun als sehr wahrscheinlich angesehen. Leiter der neuen Kolonialabteilung war Edmund Brückner, der ehemalige Gouverneur von Togo. Ab 1920 begann die Reichsregierung Kolonialunternehmen finanziell zu unterstützen, um den Rückkauf ihrer abgetretenen Besitzungen zu ermöglichen. Die meisten Pflanzungen in Kamerun konnten 1924 von den ehemaligen Besitzern wieder erworben werden.

Die Stimmen, die eine Rückgabe der Kolonien forderten, wollten auch schon in der frühen Phase der deutschen Demokratie nicht verstummen. Zu diesen Stimmen zählte auch der Kölner Bürgermeister Konrad Adenauer. Von 1931–1933 war er stellvertretender Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft.

Das Thema Kolonien wurde in der Weimarer Republik weiterhin in der Bevölkerung diskutiert. Zunächst wurde 1925 die Dachorganisation Koloniale Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag) gegründet, aus der ab 1933 der Reichskolonialbund hervorging. Ebenfalls 1925 wurde von Johannes Bell (ehemaliger Kolonialminister) Interfraktionelle koloniale Vereinigung, der Parteimitglieder von der NSDAP bis zur SPD angehörten.

Im Falle einer Rückgabe der Kolonien sollte für eine erneute Besiedelung genügend Fachpersonal zur Verfügung stehen. Daher wurde mit staatlicher Unterstützung 1926 die Koloniale Frauenschule Rendsburg und 1931 an der Forstlichen Hochschule Tharandt das Institut für ausländische und koloniale Forstwirtschaft gegründet.

Deutscher Kolonialismus nach 1933

Viele Deutsche empfanden die Übernahme der Kolonien durch die Alliierten als Diebstahl. Dieser Eindruck verstärkte sich vor allem, nachdem der südafrikanische Premierminister Louis Botha alle Behauptungen, die von den Alliierten über die Deutschen als Kolonialherren aufgestellt wurden, als haltlos und erfunden bezeichnete. Deutsche Kolonialrevisionisten sprachen von einer "Kolonialen Schuldlüge". Viele dieser Kolonialrevisionisten schöpften nach der Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 erneut neue Hoffnung, dass das Deutsche Reich erneut zu einer Kolonialmacht aufsteigen wird. Mehr als eine Million Mitglieder waren 1933 im neu gegründeten Reichskolonialbund organisiert. Der Reichskolonialbund wurde bis 1936 von Heinrich Schnee (1871-1949) und zwischen 1936 und 1943 dann von Franz Ritter von Epp (1868-1947) geleitet.

Ab 1933 versuchte das nun von der NSDAP regierte Deutsche Reich den Bedingungen des Versailler Vertrags hinsichtlich der Abtretung der Deutschen Kolonien zu ändern. So gründete man 1934 in München ein eigenes Kolonialpolitisches Amt. Franz Ritter von Epp wurde 1934 von Hitler zum Reichsleiter des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP ernannt. Mit der Amtsübernahme wurde von Epp zu einer Schlüsselfigur des Kolonialrevisionismus im Deutschen Reich nach 1933.

Gleichzeitig musste sich der Reichskolonialbund auf Anweisung des Propagandaministeriums auf die Widerlegung der sogenannten "kolonialen Schuldlüge" und auf die Wiedererlangung der ehemaligen Kolonien zur Rohstoffversorgung zu beschränken. Die kolonialen Jugendabteilungen und Pfadfindergruppen wurden aufgelöst und in die Hitlerjugend eingegliedert.

Im Rahmen des im Deutschen Reich nach 1933 praktizierten Kolonialrevisionismusses kam es zur Umbenennung vieler öffentlicher Straßen und Plätze nach Persönlichkeiten der kurzen deutschen Kolonialgeschichte. Es wurden auch entsprechende Denkmäler aufgestellt und regelmäßig Gedenkfeiern und Ausstellungen organisiert. Auch im Film und den Druckmedien spiegelte sich diese Entwicklung wider. Selbst Kolonialschulen nahmen ihren Lehrbetrieb wieder auf und bildeten Fachkräfte für einen späteren Einsatz in den Deutschen Kolonien aus.

Erschließung des Afrika-Viertels

Nach einem ab 1935 vom Kieler Stadtplanungsamt unter dem Magistrat-Oberbaurat Herbert Jensen (1900–1968) erarbeiteten Konzeptes sollte nördlich des alten Dietrichsdorfer Ortskerns ein neues Wohngebiet für Arbeiter der Kieler Howaldtswerke (April 1939–Juli 1943 Kriegsmarinewerft Kiel) erbaut werden.

Mit der Realisierung dieses Bauvorhabens auf einem leicht abfallenden Gelände zwischen Langem Rehm und Heikendorfer Weg wurde die Kieler Werkswohnungen GmbH beauftragt. Planung und Entwurf dieser neuen Wohnsiedlung wurden unter Leitung des Architektenbüros Ernst Prinz erarbeitet (bereits 1924 war Herbert Jensen im Architektenbüro von Ernst Prinz angestellt). Ernst Prinz und eine weitere Gemeinschaft Kieler Architekten (Otto Bade, Arnold Bruhn, Otto Christophersen, Karl Doormann, Robert Resch, Ernst Stoffers und Diedrich Suhr). Das Büro Ernst Prinz schaffte es, dass ab 1938 die Bauarbeiten begannen und auch nach Kriegsbeginn fortgeführt wurden.

Um das neue Baugebiet zu erschließen, wurden insgesamt sechs neue Straßen angelegt. Der damalige von der NSDAP beherrschte Magistrat verfügte, die neuen Straßen nach führenden Vertreter der deutschen Kolonialpolitik in Afrika des Deutschen Kaiserreiches zu benennen. Dies geschah auch vor dem Hintergrund, den durch die Reichspropaganda im Reich vorhandenen Kolonialrevisionismus zu unterstützen. Die Tatsache, dass diese Namen für Völkermord, Sklaverei und persönlicher Grausamkeit stehen, wurde ignoriert oder verdrängt. Die Straßennamen wurden im April 1939 durch den Polizeipräsidenten Kiel in den entsprechenden Straßenbenennungsakten festgelegt. Nachfolgend eine Aufzählung in alphabetischer Reihenfolge der festgelegten Straßennamen (inzwischen wieder umbenannte Straßen sind kursiv markiert):

Nachdem die Straßen festgeschrieben waren, ist es verständlich, dass das gesamte neu zu erbauende Wohngebiet als "Afrika-Viertel" bezeichnet wurde.

Die Nachtigalstraße wurde als zentrale Achse zwischen Langer Rehm und einer gegenüber der Einmündung in die Lettow-Vorbeck-Straße angelegten Aussichtsplattform konzipiert. Die Nachtigalstraße, vom Langen Rehm nach Westen durchlaufend war und ist die zentrale West-Ost-Achse im Afrika-Viertel.

Als westliche Nord-Süd-Achse im neuen Wohngebiet wurde die nach dem Werftbesitzer Bernhard Howaldt seit 1904 benannte Bernhardstraße 1939 durch den Polizeipräsidenten in Lettow-Vorbeck-Straße umbenannt. Am südlichen Ende der Straße bestand eine Sichtverbindung zur Adolf-Reichwein-Schule. 1947 wurde dann die Lettow-Vorbeck-Straße in Hertzstraße umbenannt.

Die ebenfalls 1939 neu angelegte Ritter-von-Epp-Straße kann als östliche Nord-Süd-Achse im neuen Wohngebiet angesehen werden. Am Ende der Straße (Bauernhof) bestand Sichtkontakt zum Schulgebäude an der Tiefen Allee.[2][3][4]

Einzelnachweise

  1. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. Berlin, 1889, 7. Legislaturperiode, 4. Sitzung 1888/89, 1. Bd., 26. Januar 1889, S. 627-31. Abgedruckt in August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2, Erster Halbband, 1878 bis 1890, Hg. Ursula Herrmann et al. Berlin: Dietz Verlag, 1978, S. 523-33
  2. Sönke Petersen: Arbeiterbewegung, Kommune und Howaldtswerke, Ein Geschichtsbild von Neumühlen-Dietrichsdorf 1864 bis 1924. ISBN 978-3-86460-427-0 (1. Auflage 2016)
  3. Gisela Graichen / Horst Gründer: Deutsche Kolonien, Traum und Trauma, Ullstein Taschenbuch 36940, ISBN 978-3-548-36940-2
  4. Denkmaltopographie Landeshauptstadt Kiel, Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte: Sonderveröffentlichung 29, bearbeitet von Lutz Wilde, Herausgeber Jürgen Jensen, 1995, Wachholtz Verlag Neumünster, ISBN 3-529-02520-8, Seite: 89-92 / 168-169 / 456-466.